Aus der “Festschrift 500 Jahre Oswaldkirche” (1972)
In diesen Stein über dem Nordeingang der Oswaldkirche ist die Zahl 1472 eingemeißelt. Damals erhielt unser Kirchenschiff seine heutige Größe und Gestalt. Besonders bemerkenswert ist, daß dieses Kirchenschiff an einen Turm angebaut wurde, der zu einer Kirche gehörte, die zwischen 1131 und 1181 gebaut worden ist und zu deren Schutzpatron der Heilige Oswald bestimmt wurde.
Oswald, König von Northumbrien, gilt als Missionar Englands im 7. Jahrhundert. Im Kampf gegen einen heidnischen benachbarten König fiel er am 5. August 642, erst 38 Jahre alt. Oswalds „heilige” Heraushebung aus vergleichbaren Herrschergestalten beruht auf seiner tatkräftigen Förderung der irisch-schottischen Mission, der übrigens Deutschland weithin seine Christianisierung verdankt. Dennoch blieb die Verehrung Oswalds auf die englischen Inseln beschränkt; die Missionare hatten sich in Deutschland im 7. und 8. Jahrhundert darum nicht bemüht. Sein frühestes nachweisliches Auftreten finden wir um 1215 in Weingarten. Die Gründer des Weingartener Klosters waren Welfen. Einer dieser Welfen, Welf IV., war mit Judith, einer Prinzessin des englischen Königshauses verheiratet. Diese Judith und ihr Gemahl vermachten zwischen 1090 und 1094 die Reliquien des Heiligen Oswald dem Kloster Weingarten, wo er alsbald die hohe Stellung eines Mitpatrons einnahm.
Weilimdorf lag, politisch gesehen, im Glemsgau. Der Glemsgau war seit 1131 fest in den Händen der Welfen. Obgleich sich das welfische Interesse hauptsächlich auf ihr Lehen, das Herzogtum Bayern konzentrierte, versuchten sie, im Verlauf ihrer Auseinandersetzung mit den rivalisierenden Staufern, in deren Stammlanden Fuß zu fassen. Bekannt ist in diesem Zusammenhang das Treffen bei Weinsberg 1140, das den Anlaß zur Geschichte von den tapferen Weibern zu Weinsberg („Weibertreu”) bot. Dort hatten die Welfen gegen die Staufer entscheidend verloren. Nach der Besteigung des deutschen Kaiserthrons durch den Staufer Friedrich Barbarossa im Jahr 1152 bangten die Welfen um ihren Besitz im Glemsgau. Was lag näher, als ihn nach damaligem Brauch auch „kirchlich abzustecken”? Welf VI., der sich hartnäckig gegen den staufischen Einfluß wehrende Herr des Glemsgaus, folgte in seiner Bedrängnis diesem Brauch und brachte als seine welfische „kirchliche Hausmacht” den Heiligen Oswald nach Weilimdorf und Hirschlanden. Er baute dort Kirchen, die er unter die Schutzherrschaft Oswalds stellte. Nur durch Kirchenneu-bauten konnte Welf Vl. „seinen” Hauspatron in den beiden Dörfern im Glemsgau anbringen, weil „alte” Schutzheilige in ihrer Kirche nicht einfach abgesetzt und durch neue ersetzt werden konnten. Damit ist klar, daß der Vorgängerbau der heutigen Oswaldkirche aus der Zeit zwischen 1131 und 1181 — dem Ende der Welfenherrschaft im Glemsgau — stammen muß. Mit Sicherheit haben wir also in Weilimdorf schon seit etwa 800 Jahren eine Oswaldkirche und in ihrem Dienst seit über 700 Jahren einen ständigen Priester. Das sagt uns folgende Urkunde vom 11. Dezember 1243. Geschehen im Dom zu Konstanz:
„Wir, H. v. Gottes Gnaden, Bischof von Konstanz, haben uns mit Zustimmung und Rat unseres Kapitels huldreich veranlaßt gesehen, dem Stift in Sindelfingen, dessen Besitz bekanntlich zu uns und unserer Kirche gehört und das infolge vieler und mannigfacher Plagen auf geistlichem und weltlichem Gebiet schon fast ganz zusammen-gebrochen ist, die Kirche in Weil im Glemsgau mit ihren Einkünften zu gemeinem Nutzen zu übertragen, wo-bei das Patronatsrecht ohne weiteres dem Propst gebührt — jedoch mit der Maßgabe, daß dort ein ständiger und geeigneter Priester bestellt wird.”
In dieser Urkunde aus dem Jahr 1243 ist die Kirche in Weil im Glemsgau zum ersten Mal urkundlich erwähnt samt ihren künftigen ständigen Priestern.
Noch heute ist der hohe geistlich-kulturelle Einfluß des Sindelfinger Chorherrenstiftes in Form der Rötelzeichnungen in den Turmfensternischen (um 1420) für jedermann erkennbar.
Darüber hinaus wurde unter dem Sindelfinger Patronat im Jahr 1472 die bestehende romanische Kirche aus dem 12. Jahrhundert erneuert.
Das Kirchenschiff wurde ausgebaut, der Turmchor mit dem schönen, spätgotischen Sternrippengewölbe ausgestaltet und das Patronat des Heiligen Oswald durch den Schlußstein im Chorgewölbe des Turmes bekräftigt.
Kurz nach der Neugestaltung der Oswaldkirche im Jahre 1472 gründete Graf Eberhard im Bart die Universität Tübingen, der er 1477 das Chorherrenstift Sindelfingen mit seinen ihm zugehörigen Kirchen und deren Besitztümern übertrug. Zwei Gründe haben den Herzog zu dieser Regelung veranlaßt. Erstens sollte mit der Zuweisung solcher Pfründe die sichere wirtschaftliche Grundlage für die neugegründete Pflegestätte der Wissenschaft gegeben werden.
Zweitens war ein großer Teil der Chorherren zur sofortigen Ubernahme eines Lehrstuhls an der neugegründeten Universität bereit. Das bisherige Sindelfinger Patronatsrecht ging auf den Senat der Universität Tübingen über, das er bis nach dem 1. Weltkrieg ausübte. Das bedeutete, daß neben der Herrschaft des Landesherrn der höchste geistige Mittelpunkt des Landes über zwei Wege unmittelbar nach Weilimdorf hinein wirkte: durch die Ernennung des Priesters und durch die Bestellung des Universitätsvogts zur Verwaltung und Pflege der Kirchengüter. Wie die Rötelzeichnungen in der „alten” Kirche den Einfluß des Sindelfinger Chorherrenstiftes sichtbar machen, so zeugt das Relief der „Beweinung” von dem tiefen Einfluß der Universität Tübingen. Es entstand um 1510 von einem Meister aus dem Umkreis des berühmten Heilbronner Bildhauers Hans Seyffer und zählt zu den schönsten seiner Art in unserem Lande.
Unter dem von der Universität Tübingen bestellten Priester Jakob Ringlin und dem Universitätsvogt Veit Simon wirkte sich der Einbruch des Geistes der Neuzeit bei den damaligen Weilimdorfern schon sehr früh aus.
Bereits 1531 ist in Weilimdorf zum ersten Mal evangelischer Gottesdienst gehalten worden. Das bezeugen Dokumente der Tübinger Universitätsakten. Am 6. September 1531 zeigte der Rektor der Universität Tübingen dem damaligen Bischof Hugo von Konstanz an, daß der bisherige Pfarrer zu Weil im Glemsgau, Jakob Ringlin, auf die dortige Plebania (selbständige Pfarrei) verzichtet habe. Am 2. Oktober 1531 berichtete Propst Widmann, letzter katholischer Kanzler der Universität, dem Universitätssenat unter Forderung von Geheimhaltung: „die Weilemer neigen zur lutherischen Lehre”. Der damalige Universitätspfleger Veit Simon in Weilimdorf galt als ein eifriger Vorkämpfer der Reformation. Er wurde deshalb 1533 von der Universität Tübingen seines Amtes enthoben. Ebenso Pfarrer Ringlin am 17. Mai 1533, weil er in den Häusern von Weilimdorf die evangelische Lehre predigte. Die freie Reichsstadt Eßlingen berief ihn daraufhin als evangelischen Prediger auf eine ihrer Kanzeln. Diese Wogenschläge der Reformationszeit in Weilimdorf lassen mit gutem Recht auf eine geistige Aufgeschlossenheit unserer Vorfahren schließen, die mit Pfarrer Ringlin in Eßlingen auch weiterhin durch den Weilimdorfer Max Jung engste Verbindung hielten.
1534 kehrte der verbannte Herzog Ulrich in sein Land zurück. Auf seinen Befehl wurde auch in unserem Gebiet durch Erhard Schnepf aus Weinsberg die Reformation durchgeführt. Erster evangelischer Pfarrer in Weilimdorf war Balthasar Reichenberger (1549 bis 1553). Als sein Nachfolger kam Pfarrer Samuel Isenmann von Schwäbisch Hall nach Weil. Er war verwandt mit Johannes Brenz aus Weil der Stadt, dem Reformator Württembergs. Pfarrer Isenmann legte 1553 das erste Taufbuch der neuen evangelischen Weilimdorfer Kirchengemein-de an, das seither lückenlos über mehr als 400 Jahre geführt wird. Seit 1586 bestehen die Eheregister, seit 1591 die Totenregister.
Unter seinem Nachfolger, Pfarrer Martin Bühler, bekam 1595 der Oswald-Kirchturm seine heutige Gestalt. Dazu schreibt Pfarrer Bühler auf der zweiten Seite des Taufbuchs:
„Anno 1595 ist der Turm allhier von der alten Mauer an neu aufgebaut worden. 18 Schuh ist die neue Mauer. 16 Schuh hoch der hölzerne Stock. 73 Schuh der Sparr. 16 Schuh die Helmstang. Hat eine ganze Gemein alle Handt Fron daran getan und die Bauern die Fron gefahren. Ist dennoch fünfhundert und etlich und zwanzig Gulden verbaut worden . . . Ist in fünf Monaten ganz und gar aufgebaut worden”.
Darnach hat die junge evangelische Gemeinde in Weilimdorf durch ihrer Hände Arbeit ein noch in unseren Tagen weithin sichtbares Mal ihres starken Gemeindelebens gesetzt.
Um die Zeit des Turmneubaus im Jahr 1595 stellten die Weilimdorfer in die Mitte ihrer Versammlung in der Oswaldkirche das Meisterwerk eines Unbekanten, Jesus am Kreuz, als das ihr von Gott gesetzte Zeichen der Erlösung durch Jesus Christus vom Tod und von der Gewalt des Teufels. Dieses Kruzifix steht seither als Zeichen der Liebe Gottes im Wandel der Zeiten, im Kommen und Gehen der Weilimdorfer Geschlechter. Es kündet, so wie gestern, auch uns Heutigen die Frohbotschaft von der Liebe Gottes zur Welt.
1725 schrieb M. Christian Krafft, Pfarrer zu Weilimdorf in eine Urkunde, die nach einer Turmreparatur in den Knauf unter dem Turmgockeler eingelegt wurde
„Gott woll diesen Kirchturm, samt dem Gotteshaus, auch jedem Bewohner seine Hütte vor aller Gefahr des Wetters, Feuers- und Wassernot gnädiglich bewahren, sein heiliges Evangelium fürderhin bei unseren Nachkommen wie bei uns rein und lauter predigen und die Sakramente nach der Einsetzung unseres Herrn Jesu Christi auch austeilen lassen.”
1972 wiederhole ich als ein Glied in der Kette der Priester und Pfarrer der Weilimdorfer Oswaldkirche diese Fürbitte über dem Kirchturm samt dem Gotteshaus und den 31 000 Bewohnern Weilimdorfs rings um die Oswaldkirche.
Pfarrer Hermann Hühn